„Wie erlernen und vermitteln wir „future skills“ in der Hochschulpraxis?“
Beim Bologna-Tag im März 2021 hielt ich eine Keynote im Interviewstil. Gemeinsam mit Fares Kayali, Professor für digitale Bildung und digitales Lernen am Institut für LehrerInnenbildung der Universität Wien wurde ich zum Thema Future Skills von Katalin Szondy, die in der Leitung der FH-Service Hochschulentwicklung und als nationale Expertin für den Europäischen Hochschulraum an der Fachhochschule St. Pölten tätig ist, interviewt.
Die OeAD hat dankenswerter Weise das Interview Transcript veröffentlicht, das Sie hier im folgenden lesen können. Dazu finden Sie hier auch das Recording der Keynote verlinkt.
Katalin Szondy: Könnten Sie uns mit einer Begriffsklärung auf die Sprünge helfen? Wir haben jetzt eine Reihe von Begriffen, die sich um das Thema scharen: „Future Skills“, dann haben wir den Begriff „überfachliche Kompetenzen“, den der „Schlüsselkompetenzen“, und ich erinnere mich dunkel daran, dass wir irgendwann von „Soft Skills“ gesprochen haben, wo sind die hin verschwunden?
Ulf-Daniel Ehlers: Danke für die Frage, danke für die Einladung, ich freue mich hier mit Ihnen diesen Bologna-Tag gestalten zu können. Ich bin ja auch ein ganz überzeugter Bildungseuropäer und bin da auch sehr aktiv. In der Vorbereitung habe ich noch einmal nachgeschaut: In diesem schon 21 Jahre dauernden Bologna-Prozess ist es so, dass alle zwei Jahre ein großer Report geschrieben wird. Ich hatte die Gelegenheit, das Privileg, die Beratungsgruppe für das Thema Hochschullehre für den letzten Report über die letzten zwei Jahre zu leiten, den Vorsitz zu machen. Und ich erinnere mich sehr gut: Als wir dann den Ministerien unsere Empfehlungen kurz vor Veröffentlichung vorgestellt haben, da gab es welche, die gesagt haben: „Der Begriff der Future Skills taucht da gar nicht auf, ist das nicht auch wichtig für die Zukunft der Hochschulen?“ Da ist mein Herz natürlich aufgegangen. Ich habe gerade noch mal nachgeschaut: so haben wir es zwar nicht ganz geschafft –das ist ja immer ein politisches Ringen – diesen Begriff da in voller Schönheit reinzubringen, aber „skills for the future“ sind da immerhin drin und ich glaube, dass das auch das große Thema der Zeit ist, dem wir uns nicht verschließen können.
Kurz zum Begriff: Das ist natürlich eine große Begriffsverwirrung. Ich habe selbst lange mit mir gerungen, ob ich mein Buch tatsächlich so nennen soll: „Future Skills“, weil das ein Kunstbegriff ist, der keinen Sinn macht. Skills sind per se auf „future“, Kompetenzen sind per se auf die Lösung komplexer Probleme in einer unvorhersehbaren Zukunft gerichtet. Es ist aber so, dass der Kompetenzbegriff in den letzten 30, 40 Jahren eine „Karriere“ gemacht hat: In den 1990er Jahren haben wir von Schlüsselkompetenzen geredet, die wichtig werden. Inden Hochschulen hat sich das Bewusstsein entwickelt, dass es über die Wissensvermittlung hinaus geht und den Studierenden auch Schlüsselkompetenzen, breite Fähigkeiten mitgegeben werden sollten: Empathie, Verständnis, Analysefähigkeit, überfachliche Kompetenzen. In den 2000ern wurde angefangen von 21st century skills zu sprechen, dann kamen auch Themen wie die SDGs auf, sowie Nachhaltigkeitskompetenzen bzw. Skills für nachhaltige Entwicklung und die Frage: Wie können unsere Hochschulabsolventinnen und -absolventen dafür sorgen, dass die Welt sich in diese Richtung entwickelt, die die SDGs vorsehen? Dann kamen Digital Skills und Data Science dazu, so hat dieser Begriff der Schlüsselkompetenzen bzw. der neuerdings Future Skills eine Karriere hinter sich. Wir haben uns in unserer Arbeit der letzten fünf Jahre auch sehr auf diese Begriffe konzentriert: vor zwei Jahren haben wir weltweit etwa 57 verschiedene Future-Skills-Ansätze gefunden und diese analysiert. Dabei sind wir zum Schluss gekommen, dass viele dieser Ansätze bildungswissenschaftlich wenig fundiert sind, das sind zumeist Listen von Kompetenzen,die aktuelle Trends abbilden und oft auch empirisch nicht fundiert sind. Unsere Idee war,hier eine Klärung herbeizuführen, den künstlichen Begriff beizubehalten, aber ihn zu unterfüttern und aus der Data Science Ecke der reinen Digitalität zu holen –das ist natürlich ein wichtiges Thema, aber nicht das einzige –und ihn auch empirisch auszuleuchten.
Katalin Szondy: Herr Prof. Kayali, sehen Sie damit den Begriff gut eingeführt und auch schon unterfüttert mit den richtigen Themenbereichen?
Fares Kayali: Ich freue mich über diese ausführliche Klärung, da ich mich nur für einen Teilbereich zuständig sehe, der zwar fast schon überproportional wichtig erscheint. Deshalb auch danke für diesen Abschluss zu den Kompetenzen im digitalen Raum. An dieser Stelle auch von mir Danke für die Einladung, ich freue mich sehr, in diesem recht innovativen oder der derzeitigen Lage gut gerecht werdenden Setting teilnehmen zu dürfen. Ich kann aus meiner Ecke ergänzen: Ich besetze die Professur für Digitalisierung im Bildungsbereich, komme aus der Technik. Ich bin als Informatiker über den Umweg der Gestaltung von Technologie und Anwendungen wie Lernapps in die Lehrer/innenbildung gekommen und unterrichte dort jetzt in den allgemeinen bildungswissenschaftlichen Grundlagen. Ich komme aus der Technologie gestaltenden Perspektive, da ist die Sicht auf diese Kompetenzen auch eine etwas andere. Im Digitalen sprechen wir sehr oft von Medienkompetenz, wenn wir etwas spezifischer sein wollen, im Allgemeinen hat sich eingebürgert der Begriff der digitalen Kompetenzen / Digital Skills. Ähnlich wie der Kollege bei den Future Skills angemerkt hat, teile ich die Sicht, dass der Begriff Digital Skills schwierig ist. Denn was ist dabei digital, die Skills sollen digital sein, die Wortkonstruktion ist also schon aus grammatikalischer Sicht schwierig. Der Begriff hat sich dennoch eingebürgert, auch in Kompetenzmodellen.
Für digitale Kompetenzen haben wir in Österreich das digi.komp Modell bzw. das digi.kompP Modell für die Pädagog/innenbildung, wo ich mich auch freue ein bisschen involviert sein zu dürfen. Auf EU-Ebene gibt es das DigComp und DigCompEdu Modell für Pädagoginnen und Pädagogen. Das sind Versuche, diese Kompetenzen greifbar zu machen, dabei gibt man sich schon Mühe, auch Evidenz einzubeziehen. Ich teile die Einschätzung, dass da teilweise auch Trends abgebildet werden, man versucht dann das zu kombinieren mit Evidenz oder Expert/innenmeinungen, die möglichst viele Perspektiven auf diese Kompetenzen einbringen können. Um ganz kurz auf das digi.kompP-Modell einzugehen: Daran finde ich die vier Stufen gut: Einsteigen, Entdecken, Einsetzen, Entwickeln im digitalen Kontext. Diesen Aufbau finde ich nicht schlecht, weil wir in diesen Diskussionen oft vergessen, dass diese nicht nur trend-geprägt sondern auch ökonomisch und politisch geprägt sind. Da ist mein Plädoyer, auch Vorsicht walten zu lassen, was wir denn eigentlich von den Menschen wollen und was denn legitim ist zu wollen. Wir sollten uns nicht von Kompetenzmodellen gestalten lassen, denn damit gestalten diese Bildung, Ansprüche am Arbeitsmarkt, etc. Diese haben dann eine relative große Tragweite, hinsichtlich dessen, wie wir uns als Gesellschaft und als Einzelpersonen entwickeln. Deshalb würde ich zu einer gewissen Vorsicht raten, hinsichtlich dessen, was wir in Modellen definieren. Da gefällt mir auch der digitale Humanismus-Diskurs, abgebildet in einer Ausschreibung des Wiener Wissenschafts-, Forschungs-und Technologiefonds (WWTF) letztes Jahr: „Wir brauchen nicht unbedingt technology-literate people, wir brauchen people-literate technology“, das ist so ein wenig die Umkehr. Wir dürfen nicht vergessen, was wir auch in der Technologiegestaltung berücksichtigen:die Menschenzentrierung, Nutzer/innenzentrierung, user-centred design, partizipatives Design, das in-die-Mitte-Stellen des Menschen und Strukturieren der Technologie nach den Bedürfnissen des Menschen.
Das ist kein Widerspruch, das heißt nicht, dass wir nicht auch Digital Skills brauchen, aber im Diskurs darüber, sollten wir dennoch diese Rolle von Technologie nicht hierarchisch definieren.
Katalin Szondy: Herzlichen Dank für die Beleuchtung der unterschiedlichen Perspektiven und diese wesentliche Aussage: „Der Mensch soll nach wie vor im Mittelpunkt stehen.“ Das passt sehr gut auch zum Bologna-Tag, wo wir auch von student centred teaching and learning sprechen. Also der Mensch im Mittelpunkt, wobei der Technologie natürlich ein hoher Stellenwert zukommt.
Sie haben jetzt auch schon beide Ihren Background erwähnt, der ein bisschen übergreifend ist und dann doch auch wieder auseinander geht: Herr Prof. Ehlers, Sie kommen von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, also einer Institution, an der Anwendungsorientierung großgeschrieben wird und es auch sehr intensive Schnittstellen zu Wirtschaft und Industrie gibt. Sie, Herr Prof. Kayali, kommen von der Universität Wien, die sich, was Disziplinen und vielleicht auch die Durchführung der Studienprogramme angeht, von einer angewandten Hochschule doch durchaus unterscheidet. Haben dann diese Future Skills unabhängig von diesen Unterschieden den gleichen Stellenwert in den Institutionen, genug Platz in der curricularen Implementierung, sind sie vielleicht auch von den Disziplinen ganz unabhängig?
Ulf-Daniel Ehlers: Es kommt darauf an, weg zu gehen, von der Sektorenunterteilung der Hochschulen und offene Bildungszenarien zu designen, in denen Lernende nicht mit fertigem Wissen für fertige Fragen mit richtigen Antworten versorgt werden, sondern in denen es darum geht, sich mit Fragestellungen auseinander zu setzen, für die es keine richtigen Antworten gibt, keine gültigen Modelle, die herangezogen werden. Diese Art von Professionals braucht der Arbeitsmarkt der Zukunft. Um auch aufzugreifen, was Herr Kayali gesagt hat, denn da schlägt mein Herz sehr dafür: Diese Art von Fähigkeiten brauchen wir auch in unserer Gesellschaftsgestaltung der Zukunft.
Wir müssen dafür gar nicht in die USA Donald Trumps‘ schauen, wir sind auch in Europa in einer Situation, in der es darauf ankommt, dass wir „social artists“ ausbilden als Hochschulenabgängerinnen und -abgänger. Das sind diejenigen, die die konfliktären, interessensabwägungsgeleiteten Diskurse aufnehmen können in einem Europa in dessen Zentrum wir leben, das aber auch ganz starke Fliehkräfte nach außen hat, wie wir auch am Brexit gesehen haben. Es braucht Menschen, die diese Art von Diskurs aufnehmen können, die auch in ihrem privaten Umfeld in der Lage sind, mit diesen starken Herausforderungen umgehen zu können. Denken wir zum Beispiel an Digitalisierung: 2007 wurde das erste iPhone verkauft, das ist jetzt 14 Jahre her. Mein Sohn ist jetzt gerade 10 Jahre alt. Falls er studiert, wird er in 14 Jahren in seinen Beruf einsteigen. Die Frage ist: Kann ich als Professor heute diejenigen, die vor mir sitzen mit den Curricula, die wir haben, darauf vorbereiten was in 14 Jahren sein wird, wenn man 14 Jahre zurückblickt und überlegt, was seitdem alles passiert ist? Es geht darum, Menschen dazu befähigen mit dieser Emergenz, mit diesen emergenten Zuständen umzugehen, das ist auch die Definition von Future Skills, diese sind insbesondere dort von Bedeutung, wo Menschen mit hochemergenten Zuständen umgehen müssen. Und so wie mir scheint, betrifft uns das alle in einem immer stärkeren Maße.
Um noch mal den Bogen zu Ihrer Frage zu spannen: In unseren Curriculums-und Strategieentwicklungsworkshops zu Future Skills und Digitalisierung sagen wir den Leuten, dass sie nicht alle 17 Future Skill-Profile als Hochschule oder Studienprogramm gut umsetzen müssen, sondern dass es darum geht, sich damit auseinandersetzen, was aus Sicht einer Hochschule gutes Lernen ist, mit den eigenen Stakeholdern, darüber, was die Herausforderungen sind und daraus ein eigenes Future Skills-Profil zu entwickeln, in dem die Gewichtung für den eigenen Kontext stimmt. Und wenn man weltweit schaut: Wir entwickeln gerade ein FutureSkills-Register, eine Analyse und suchen weltweit nach Programmen, auch dabei ist es so: Programme bilden nicht ein bestehendes Modell 1 zu 1 ab, sondern sind haben eigene Profile angepasst an die Region, die Zeit, den Kontext.
Katalin Szondy: Vielen Dank für die Ausführungen. Herr Prof. Kayali, stimmen Sie dem zu, Future Skills für alle, unabhängig von Disziplinen, sind wir gleichermaßen betroffen?
Fares Kayali: Ja, ich stimme auf jeden Fall zu, besonders auch dem Begriff der Emergenz und dem Beispiel Ihres Sohnes und der Latenz, die das hat. Das heißt: Das, was wir heute in der Bildung umsetzen, muss ja nicht dem gerecht werden, was wir heute brauchen, sondern dem, was in der Zukunft – je nachdem, ob wir es in der Volksschule oder an der Universität vermitteln, einer ferneren oder näheren Zukunft – gebraucht wird.
Die Gefahr besteht im Digitalen und im MINT-Bereich noch viel stärker, da müssen Kompetenzen gefördert werden, aber es besteht auch die Gefahr, hier z.B. in 14 Jahren eine „Programmierer/innenschwemme“ zu erzeugen, indem wir Dinge überakzentuieren, die uns jetzt gerade fehlen und die dann besonders stark in die Ausbildung hineinnehmen. Ich will gar nicht sagen, dass das nur so umgesetzt wird, es passiert auch umsichtig, es wird auch im digitalen Bereich auf diese breiteren, zukunftsorientierten Kompetenzen geachtet. Ich möchte damit nur noch mal unterstreichen, dass da nach vorne geschaut werden muss und da ist dieser Emergenzbegriff sehr hilfreich.
Etwas das uns aktuell beschäftigt und wo wir auch nach vorne schauen müssen, was mit dem Stichwort Brexit schon angesprochen wurde, sind die immer stärker polarisierten Diskurse, die wir gerade erleben. Da ist auch zu befürchten, dass die Situation nicht unmittelbar besser wird, sondern die Diskurse sich noch weiter polarisieren. Solche Diskurse gibt es auch stark zu Technologiethemen. Auch hier wäre es eine emergenzorientierte Ausrichtung, zu fragen: Wie, mit welchen Kompetenzen, übergeordneten Skills, Fähigkeiten kann ich helfen, Menschen an diesen Diskursen teilnehmen zu lassen? Und vielleicht nicht nur teilnehmen zu lassen, sondern auch teilnehmen wollen zu lassen. Und da sind wir dann natürlich in viel schwammigerem Terrain, da sind wir nicht mehr bei einfach zu benennenden Items, die wir abhaken können, da müssen wir uns schon interdisziplinär und gesellschaftlich fragen: Was braucht es denn, damit Leute motiviert sind, an Diskursen teilzunehmen? Was brauchen sie, um die Diskurse zu verstehen? Was brauchen sie, um teilnehmen zu können? Wie können wir Menschen befähigen, Diskurse auch zu gestalten, zu starten, zu lenken in einer konstruktiv-kritischen statt einer populistischen Weise?
Das ist das „LongGame“in der Bildung, ob wir eine Chance haben, all dem, was wir im Populismus gerade erleben, entgegenzuwirken. Solche Diskussionen müssen immer etwas politisch werden, Bildung ist auch ein politisches Thema, ohne eine konkrete politische Richtung nennen zu müssen oder zu brauchen, aber das ist, wo wir eine Wirkung erzielen können, wenn wir über Future Skills und digitale Kompetenzen reden. Das begreife ich als eine Form der Ermächtigung: Wie können wir Menschen ermächtigen, was müssen wir ihnen in die Hand geben, was müssen sie auch selbst spüren können, um in diese Diskurse eintreten und sie gestalten zu können? Und in meinem Fall ist da noch der zweite Aspekt: Was braucht es, damit Menschen Technologie gestalten können?
Zur Frage, welche Priorität das an der Universität Wien hat und wie das dort implementiert wird: Ich glaube, diese Notwendigkeit wird ganz klar gesehen, auch auf höchster Ebene und es wird auch versucht, das zu implementieren. Ich sehe das auf zwei Ebenen: einerseits stark übergreifend, weil das teilweise auch schwer fassbare Begriffe von Kompetenzen sind, die auch nicht eindeutig einzelnen Disziplinen zuordenbar sind, dementsprechend braucht es dieses Übergreifende, fast schon wie Werte, die einfließen müssen. Auf der anderen Seite hat man sehr wohl das Integrative, also die Frage: Was kann denn jetzt konkret in einzelnen Studienrichtungen, einzelnen Fächern, einzelnen Lehrveranstaltungen gemacht werden? Und das ist natürlich jetzt kein kurzer Weg, das hat natürlich auch mit Fortbildung der Lehrenden zu tun, das hat mit Richtlinien geben zu tun, mit Unterstützungsstrukturen, das versucht man alles an der Universität Wien, diese Priorität ist schon klar. Es gilt übrigens genauso für die Schule, dass es beides braucht, wo digitale Grundbildung als eigenes Fach etabliert wird und gleichzeitig in anderen Fächern digitale Skills integriert werden. Gerade diese übergreifenden Dinge zu implementieren ist aber oft nicht sehr einfach, gerade, wenn diese übergreifenden Werte dann in verschiedene Fächer integriert werden sollen. Da braucht es ein Gefühl von Zuständigkeit einzelner und auch Koordinations-und Kommunikationsstrukturen. Da haben wir in der schulischen und in der Hochschulbildung Herausforderungen, die klar gesehen werden, aber wo wir auch noch einiges zu tun haben.
Katalin Szondy: Sie haben schon wesentliche Schlagworte genannt, die mich zu meiner nächsten Frage bringen: Interdisziplinarität, Gestaltung, Integration und auch die Herausforderung, die damit einhergeht. Wir haben viele Lehrende und Verantwortliche für die Gestaltung von Curricula im Publikum, deshalb die Frage: wie würden Sie das Curriculumsdesign angehen und wie würden Sie didaktische Konzepte implementieren? Sollen diese Kompetenzen sehr verwoben in Curricula abgebildet sein? Wie sollen sie unterrichtet werden, gekoppelt an Fachkompetenzen oder in Einzelkursen? Welche Erfahrungswerte haben Sie da auch schon?
Fares Kayali: Ich kann zwei Anwendungsbeispiele von der Universität Wien geben: Wir haben ein Erweiterungscurriculum: „Digitalisierung verstehen und mitgestalten“ implementiert. Das ist ein 15 ECTS-Konstrukt aus 3 Lehrveranstaltungen, das alle Studierenden der Universität Wien studieren können, das heißt,es versucht sehr stark, diesen übergreifenden Anspruch zu implementieren. Es beginnt mit einer Lehrveranstaltung „Digitale Transformationen“ in der es darum geht, dieses breite, interdisziplinäreVerständnis aufzubauen, mit Einzelvorträgen von Professor/innen verschiedenster Fachrichtungen. Da versuchen wir, diesen breiten Rahmenabzubilden mit einem Augenmerk auf Reflexion, um diese erste Stufe der Diskursfähigkeit zu ermöglichen, Verbindungen zu schaffen und Interdisziplinarität abzubilden. Dann geht es weiter mit einem Modul, das nennt sich „Computational Empowerment“. Das ist ein Begriff, den ich ein bisschen appropriiert, mir angeeignet habe von Dindler/Iversen, die das vor allem im Bereich der Digital Fabrication, 3D-Druck und so weiter, als so einen gar nicht so sehr dem Computational Thinking entgegengestellten, sondern das Computational Thinking erweiternden Begriff verwenden. Während es beim Computational Thinking sehr stark um das Verstehen geht von: „Wie funktionieren Computer, wie funktionieren Programme, wie kommen Computer zu Lösungen?“, versucht Computational Empowerment diese Mitgestaltungsfähigkeit, diese Gestaltungsfähigkeit zu betonen: Wie kann ich mir Technologie zu Eigen machen, um mich kreativ zu verwirklichen? Im Kontext dieses Curriculums habe ich versucht, diesen Begriff ein bisschen weiter zu ziehen in Richtung nicht nur dieser kreativen Gestaltung mit Technologie sondern auch im Sinne dieser Ermächtigung zum Gestalten von Diskursen. Im dritten Schritt versucht das Curriculum, das auch auf fachlicher Ebene zu verankern, da gibt es eine große Breite von Seminaren, um im oder nahe am eigenen Fachkontext zu sehen, was dieses eher Überspannende im eigenen Fachbereich bedeutet.
Das zweite, was wir implementiert haben, was auch Teil dieses Erweiterungscurriculums ist, ist ein MOOC, also Massive Open Online Course, „Digitales Leben“, von dem wir gerade den zweiten Teil produzieren. Dabei versuchen wir, diese interdisziplinären Inhalte in einem Online-Kurs zum Selbststudium abzubilden. Langfristig soll der Onlinekurs in die universitäre Lehre eingebunden werden und dadurch Freiräume geschaffen werden. Die Inhaltsebene wird ausgelagert in diesen Onlinekurs – methodisch klassisch Flipped classroom – um in der Präsenzlehre Platz zu haben für diese Diskurse, für dieses Reflektieren. Das ist ein Ansatz, von dem wir hoffen, dass er diesen Themen gut gerecht wird.
Katalin Szondy: Herzlichen Dank, ich glaube, ich bin schon ganz weit weg von meinen einfachen Soft Skills, das ist ganz schön komplex, auch die curriculare Einbindung, beziehungsweise sich Raum zu schaffen für diese Themen in den Curricula oder auch ausgelagert in weitere Curricula oder Module, eine spannende Sache.
Herr Prof. Ehlers, ich orte da eine Individualisierung der Lernpfade durch diese Future Skills, stimmt das, oder liege ich da falsch?
Ulf-Daniel Ehlers: Ich glaube, dass die Future Skills nicht unbedingt der Impulsgeber sind für die Individualisierung von Lernpfaden, aber ich glaube,dass wir große Entwicklungen vor uns haben oder auch in einem großen Transformationsprozess stecken. Eine Zahl ist da die Zahl „50+“: 50%+ einer Alterskohorte, prognostiziert die OECD, werden in die akademische Bildung gehen. Das heißt trotz sinkender Bevölkerungszahlen eine ansteigende oder zumindest gleichbleibende Studierendenzahl. In vielen Ländern gehen die Prognosen sogar bis 70%. Das heißt: In dieser Situation werden wir immer mehr Menschen an die Hochschulen kriegen, die nicht unsere traditionellen Studierenden sind. Das sind Studierende, die in ganz diversen Lebenslagen zu uns kommen, das sind Studierende in einer Lebensphase nach einer Berufsphase, Leute, die direkt aus der Schule kommen, Leute, die aus der Berufsbildung in die Hochschule kommen, und so weiter, und so weiter.
Und damit wird sich die Frage stellen: Wie können wir tatsächlich eine Individualisierung der Förderung, der Interessen, der diversen Vorbildungen, Lebenssituationen und bildungsbiografischen Kontexte hinbekommen? Denn es ist klar: Jeder einzelne Mensch, jeder einzelne Studierende ist für uns sehr wichtig, in einer Zukunft, in der akademische Bildung zum Standardmodell werden wird und gleichzeitig sinkende Demografien auch eine Tatsache sind. Wir haben im Rahmen unserer Future Skills-Arbeiten unterschiedliche Studien durchgeführt. Neben jener zu den Future Skills haben wir auch eine zur Identifizierung von großen Entwicklungstrends für Hochschulen durchgeführt. Dabei zeigen sich vier große Themenbereiche, die die Zukunft der Hochschulen wahrscheinlich stark beeinflussen werden:
Das eine ist das Thema „Future Skills“, die Transition zu einer Art von Haltung und Lehre, die nicht von Wissen weg geht, aber auf Wissen+ in der Zukunft übergehen wird. Wo also die Erfindung, die Anwendung, die Analyse davon, was Wissen ist, was Wissensbestände sind, was Wissensarbeit eigentlich ist, mehr im Vordergrund steht, auf dem Weg zu einer Professionalisierung und Kompetenzorientierung, in der es vor allem darum gehen wird, dass man eben mit komplexen, unbekannten Fragestellungen der Zukunft erfolgreich umgehen kann.
Das zweite große Thema ist das Thema „Multiinstitutionelle, vernetzte Kontexte“: Das Studium wird sich immer weiter weg entwickeln davon, dass man sich an einer Universität einschreibt und an derselben Universität auch seinen Abschluss macht, sondern es wird immer mehr „curriculare Importe“ geben von anderen Hochschulen, oder auch „curriculare Exporte“ in andere Hochschulen hinein und Studierende werden online oder offline Studienerfahrungen machen, die nicht nur auf einem Campus stattfinden sondern vernetzt.
Das ist stark beeinflusst von dem dritten großen Faktor und dieser dritte große Faktor ist das Thema „Personalisierung“, also die Abkehr davon, dass wir im großen Stil weiter machen können mit unserem Vorbereitungsparadigma, also dass wir sagen: Wir haben im Ingenieurs-oder Krankenhausbereich das typische Bündel von Aktivitäten analysiert und daraus machen wir jetzt ein Curriculum. Und das ist dann, wenn die Studierenden in 3, 5 oder 7 Jahren fertig sind, das maßgebliche. Dass wir also ein bisschen davon weg gehen, und stattdessen dahin, dass Studierende dabei begleitet werden, ihre eigenen Curricula zu entwickeln. Das klingt sehr revolutionär, wird aber immer mehr gemacht. Die setzen sich damit auch auseinander, nehmen sich dafür Zeit, setzen sich mit Wissenschaft und Fragestellungen auseinander und präsentieren das einem Academic Board und dann geht es los. Einige Hochschulen sind auch weggegangen von der reinen Fachorientierung der Studiengänge, hin zu Studienangeboten, die sich an großen gesellschaftlichen Problemlagen orientieren. Mobilität, zum Beispiel, da fließen dann Studieninhalte aus den Ingenieurwissenschaften, aus den Betriebswirtschaften und auch weiteren Gesellschaftswissenschaften hinein.
Das vierte ist dann das Thema des „Lebenslangen Lernens“, das wiederum auch Individualisierungskomponentenenthält. Zumindest für Deutschland kann ich sagen, dass wir da noch lange nicht gut aufgestellt sind. Ich selbst war sechs Jahre Vizepräsident meiner eigenen Hochschule, und wir haben eine große Plattform für Lebenslanges Lernen gegründet. Und womit man da alles zu tun hat, bis hin zum Dienstrechtlichen; die Frage: Kann der Hochschulprofessor, die Hochschulprofessorin sich da überhaupt engagieren, oder nicht, ist das im Rahmen der Dienstzeit oder extra vergütet? Wie bekommen wir die Logistik am Samstag an die Hochschulen? Das sind tatsächlich Fragestellungen, wo man am Ende des Tages sagt: Wenn wir ein Bild von Hochschule haben, die über die Lebenszeit eine eher größer werdende Rolle spielen soll und nicht eine Vorbereitung am Anfang durch Bachelor und Master ist und dann eine abnehmende Rolle spielt, dann müssen wir noch ganz viel an unseren Organisationsstrukturen machen. Das fällt Hochschulen nicht so leicht, weil wir davon bisher ein ganz anderes Verständnis haben.
Katalin Szondy: Vielen Dank, dass Sie uns aufmerksam machen, auf diese Herausforderungen, denen wir entgegenblicken. Ich denke auch das Thema Durchlässigkeit müssen wir uns hinter die Ohren schreiben und auch all diese Themen, die sich rund um Anerkennung bewegen. Ich sehe: wir sind am Ende unserer Zeit, ich hätte noch ganz viele Fragen und auch im Publikum sind Fragen aufgetaucht. Ich würde Herrn Prof. Kayali um die Beantwortung einer Frage bitten, denn Sie, Herr Prof. Ehlers, werden wir auch in den Breakout-Sessions wiedersehen. Wenn der Mensch in das Zentrum der Betrachtung gestellt wird, inwieweit wird agiles Lernen – Wissen prosumieren statt konsumieren – berücksichtigt?
Fares Kayali: Die Frage verbindet sehr schön Punkte, die wir beide versucht haben zu machen, einerseits was ich vorher sagte zu unserem MOOC: die Inhalte werden zwar konsumiert, aber die Präsenzlehre wird dann für dieses Prosumieren, dieses Gestalten von Diskursen, genutzt. Das ist kleinteilig, auf Ebene der Lehrveranstaltung, im Großen hat es Herr Ehlers gesagt: wenn Studierende ihre eigenen Studienpläne entwerfen. Das ist eine ganz klare Version des Prosumieren und das finde ich, ist auch sicher eine spannende Entwicklung, die wir unterstützen sollten.
Katalin Szondy: Vielen herzlichen Dank für die Beantwortung dieser Frage und der vorangegangenen Fragen. Ich denke wir haben einen sehr guten Überblick bekommen, was aktuell die Gedanken und Bewegungen in Richtung Implementierung von Future Skills an Hochschulen, in Curricula und konkret in der Lehre sind und wie die Zukunft des Lernens und des Lehrens aussieht. Danke für diesen großartigen Einblick, ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Zeit.
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