<<Deutsch>> Die aktuelle Krisensituation eröffnet an allen möglichen Stellen Schwierigkeiten. Das Coronavirus verbietet es uns, den Arbeitsalltag, das soziale Leben und auch das Studium bzw. die Lehre in den gewohnten Bahnen laufen zu lassen. Es sind Zeiten von sozialer Distanz, dementsprechend fallen Präsenzlehrveranstaltungen an Hochschulen, Universitäten und Schulen vorerst aus. Die Lehre findet nun digital statt, was von Studierenden und Lehrenden ganz neue Techniken erfordert.
Was jedoch vorerst erschreckend wirkt, kann auf weite Sicht auch Vorteile bringen. Die digitale Lehre ermöglicht einen völlig neuen Weg, der den Studierenden in ihren persönlichen Lebenssituationen entgegenkommen kann und ihnen individuellere Lernmethoden eröffnet, die nicht mehr stringent und synchron zu laufen haben, wie es in der konventionellen Präsenzlehrmethode der Fall war.
Ich beschäftige mich schon seit langem mit den Möglichkeiten des digitalen Lehrens. Im folgenden Interview erhalten Sie einen Ausblick darüber, was der Online-Unterricht für Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten, bieten kann.
In einem Interview mit Kati Ahl hatte ich die Chance über das Thema des digitalen Mehrwerts für Lehren und Lernen nachzudenken, und die Chancen, die uns der Digital Shift, den wir gerade überall wahrnehmen, ermöglicht. Kati Ahl ist Direktorin einer Grundschule und konnte daher meiner eher hochschulgeprägten Perspektive eine komplementärer Sichtweise hinzufügen. Mich hat besonders interessiert, wie Schule und Hochschule gegenseitig von Erfahrungen profitieren können.
Kati Ahl: Welche Erfahrungen nehmen wir aus der Corona-Phase in den Alltag unseres Bildungssystems mit?
Ulf-Daniel Ehlers: Das ist ein spannendes Thema. Wir haben dazu schon eine Klausurtagung für den Herbst geplant. In der Hochschule bleibt die gemeinsame Erfahrung, dass digitale Medien für den Kontakt zu Studierenden nutzbar sind und die Hemmschwelle gesunken ist, digitale Medien zu nutzen. Wir kennen nun die Telefonnummer des IT-Supports, wir haben eine Videokamera, wir haben gelernt, dass man die auch mal ausschalten kann. Viele Vorurteile sind durch reale Erfahrungen informierter geworden.
KA: Was ist Ihnen besonders wichtig?
Ehlers: Im Bildungsbereich ist mir die Frage wichtig, was wir durch digitale Medien anders machen können, dass wir also über die Vorstellung hinausgehen, das Gleiche zu tun, was wir im Präsenzunterricht gemacht haben. Das erlebe ich auch im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen der Hochschule. Viele machen zum Beispiel die Erfahrung, dass es für die Lernenden sehr anstrengend ist, wenn sie bei einer Online-Vorlesung zwei Stunden vor dem Bildschirm sitzen müssen. Das Wunderbare aber ist, dass es ein Potential hin zur Flexibilisierung und zur Individualisierung gibt. Das ist der größte Mehrwert. Man kommt also weg von der Fiktion, dass alle das Gleiche zur selben Zeit in der gleichen Geschwindigkeit lernen, und findet zu der Haltung, dass es unterschiedliche Lernpfade geben kann, dass Lernen ein Problem lösen muss und nicht nur einem Thema folgt, dass es dazu verschiedene Wege gibt und verschiedene Materialien. Und man kann zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten lernen und die Lebenssituation berücksichtigen.
KA: Sicher nutzen die Studierenden auch digitale Möglichkeiten zum vernetzten Lernen?
Ehlers: Ja, eine weitere große Chance ist die Möglichkeit zur Vernetzung und die daraus entstehende Form der Zusammenarbeit. Es kann dadurch zum Beispiel eine Zusammenarbeit mit der interessierten Fachcommunity entstehen, da wir Material und Arbeitsergebnisse online stellen. So hatten wir beispielsweise eine Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk, der darüber einen Bericht erstellt hat. Durch den Kontakt zur realen Welt bekommt das Thema eine ganz neue Relevanz, es geht ´raus aus der Hochschule. Man lernt plötzlich nicht mehr nur für sich oder den Professor oder die Professorin, sondern in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext.
KA: Welche konkreten Potentiale würden Sie nennen?
Ehlers: Das sind die Potentiale Individualisierung, Flexibilisierung und das Schaffen einer neuen Öffentlichkeit sowie Vernetzung. Das erfordert allerdings ein Umdenken, weg vom Frontalvortrag. Man stellt dann fest, dass Lernende durchaus auch ohne Lehrende lernen können, diese aber eine neue tolle Rolle haben. Sie sensibilisieren für Probleme, sie geben Hilfestellung und stellen Lernmaterialien bereit.
KA: Ich habe drei Punkte herausgehört: die Möglichkeit der Individualisierung, die selbsterklärend ist, die neue Flexibilität im Lehren und Lernen und die Öffnung neuer Räume, sowohl der Lernräume, aber auch den Denkraum zur realen Welt, zum Anwendungsbezug von Lernen. Ich frage mich aber: Wenn die Menschen so an einer Sache arbeiten, fehlt dann da nicht der soziale Bezug?
Ehlers: Ich würde sagen, dass sind möglicherwiese Risiken, die man in der digitalen Arbeit eingeht. Aber wichtig ist, dass online-Kommunikation, online-Feedback und ein Prozess einer Peergroup, die online arbeitet, nicht automatisch funktioniert. Auch in der Präsenz muss man das ja erst erlernen. Das erfordert eine absichtsvolle und gerichtete Anleitung, die wir Onlinedidaktik oder online-Pädagogik nennen, wie wir das auch im Präsenzunterricht tun.
KA: Können Sie mir ein positives Bild malen von innovativer digitaler Bildung, die pädagogisch sinnvoll ist?
Ehlers: Ein Beispiel: Ich habe 2006 sehr gute Erfahrungen als online-Professor an einer amerikanischen Universität gemacht. Dort gab es eine Lernplattform ohne synchrone Elemente, nur Text und Diskussionsforen. Wir haben dort an einem Thema gearbeitet, mit Wochenaufgabe zu einem Lead-Text, die die Studierenden selbst beantwortet haben. Zusätzlich war gefordert, zwei Feedbacks zu den Ergebnissen anderer zu schreiben. Die Kriterien für das Feedback waren klar ausformuliert. Sie mussten Bezug aufeinander und auf den Originaltext nehmen. Jeder hat also Feedback bekommen und gegeben, und auch Kommentare anderer kommentiert. Das führte zu einer rollierenden Diskussion; das war eine so reichhaltige Auseinandersetzung im Austausch, das hätte ich in einer Präsenzklasse niemals hinbekommen, da die Interaktion dort anders verläuft. Hier kann auf jede Aussage Bezug genommen werden! Das braucht es, das ist ein kunstvolles Geschehen, genauso wie gelungener Präsenzunterricht. Diese Welt ist viel individueller und flexibler als die Welt, in der wir unsere Schulen organisieren, in der alle zur gleichen Zeit für 45 Minuten das Gleiche lernen.
KA: Das ist interessant: Digitalisierung braucht also einen neuen Lernprozess für Kommunikation?
Ehlers: Genau. In diesen Corona-Zeiten unterrichte ich beispielsweise online. Ich bemerkte dabei, dass manche Studierende noch nicht dieses reichhaltige Feedback geben können. Deshalb gehen wir schrittweise vor und erläutern Kriterien für das Feedback. So üben wir das gerade, und es wird jede Woche ein bisschen besser. Es braucht also einen Sozialisationsprozess für den Online-Unterricht. Das erfordert für Hochschule wie für Schulen ein Umdenken und eine Sozialisation in die Materie hinein und auch neue didaktische Formen.
Wir haben ja die Wahl. In meinen Augen führen wir über die scheinbare Opposition zwischen Präsenzerfahrungen und digitalen Erfahrungen eine Scheindiskussion. Wir können doch die Präsenzerfahrungen durch die digitalen Erfahrungen reichhaltiger gestalten und beides verbinden. Wir wollen vielleicht zukünftig Grundschule, wie Sie sie beschreiben, und gleichzeitig eine individuelle Lerngeschwindigkeit, vielleicht computerunterstützt, vielleicht nicht in allen Fächern und die ganze Zeit. Die Lernenden können sich vielleicht auch auf neue Weise vernetzen und miteinander sprechen, zwischen Grundschulen oder mit dem Bürgermeister… das sind ja auch Erfahrungen, nur digital vermittelt. Ich finde beides wichtig. Wir sollten das Beste von allem nehmen, damit das Beste für die Kinder daraus wird.
Das vollständige Interview finden Sie ab August 2020 hier:
https://www.friedrich-verlag.de/shop/schule-veraendern-jetzt-31412
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